engel wider die eindeutigkeit

Antke Engel
Bilder von Sexualiität und Ökonomie
Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus
Bielefeld: transcript (2009)

Excerpts from a comprised English version (as pdf)

Einleitung und Inhalt

Einleitung und Inhalt (als pdf)

Die 'sexuelle Revolution der Bilder - Intro

1: Technik und Taktik der projektiven Integration

2: Verführung in die privatisierte Verantwortung

3: Die Widersprüche der Paradoxien

4: Paar werden – Strange werden

5: Spektakel im Rahmen

6: : ›Dazwischen‹ geraten und produktiv geworden. Methodologische Reflexionen

alle folgenden Textausschnitte (als pdf, mit Fußnoten)

Kapitel 1: : Technik und Taktik der projektiven Integration

Projektive Integration zeichnet sich durch eine positive, wertschätzende Haltung zur Differenz aus, die als kulturelles Kapital nutzbar erscheint und nicht mehr als das ›ganz Andere‹ eines angeblich stabilen, autonomen Selbst angesehen wird. Vielmehr wird sie u. a. im eigenen Selbst gesucht oder für dieses beansprucht – auf dass dieses die Anforderungen einer flexiblen, dynamischen, sich selbst gestaltenden, eigenverantwortlichen Subjektivität erfüllen kann. Wie in der Einleitung bereits angedeutet, vertrete ich die Auffassung, dass durch projektive Integration bestimmte Formen homosexueller und polymorpher Existenz nicht nur als integrationsfähig angesehen, sondern als Vorbilder zivilgesellschaftlicher, konsumkapitalistischer Bürger_innenschaft figuriert werden. Meine These ist, dass sich entlang dieser Figur ein neuer hegemonialer Konsens herausbildet, der eine klare Hetero/Homo-Opposition in Frage stellt und durch eine Allianz dominanzgesellschaftlicher und minderheitenpolitischer Zustimmung zum neoliberalen gesellschaftlichen Projekt ersetzt.

In diesem Sinne biete ich projektive Integration als einen herrschaftsanalytischen Begriff an, der einen sozialen bzw. sozio-ökonomischen Prozess der Regulierung von Differenz bezeichnet. Zu analysieren ist, ob bzw. wie dieser Prozess zur hierarchischen Differenzierung des Gesellschaftlichen beiträgt, wie Differenz hierbei konzipiert und nutzbar gemacht wird und wie Individuen – in ihrer Unterschiedlichkeit – in Herrschaftsprozesse eingebunden werden. Herrschaft wird dabei im hegemonietheoretischen Sinne nicht primär als repressive Staatlichkeit, sondern als zivilgesellschaftliche Normalisierung gefasst. Interessant erscheint mir, dass projektive Integration nicht bruchlos in herkömmliche soziologische Integrationsmodelle einzufügen ist, denen gemäß eine integrierte Gesellschaft unbedingtes Ziel und (ein zumindest abstrakter, grundwerteorientierter) Konsens eine unhintergehbare Voraussetzung für das Funktionieren von Gesellschaft sind (vgl. Friedrichs/Jagodzinski 1999; Heitmeyer/Imbusch (2005). Da derartige Modelle vielfach dafür kritisiert worden sind, dass sie – selbst in pluralistisch oder konfliktuell angelegten Varianten – Alteritätspositionen aus der politischen Partizipation ausschließen, ist bezüglich projektiver Integration zu fragen, wie das Verhältnis von Differenz und Integrationsgesellschaft konstruiert ist (vgl. Engel 2006b; 2008e). Welche Bedeutung gewinnt Differenz, die in Form eines Projektionsbildes kulturellen Raum besetzt? Welche Formen der Differenz – seien es soziale Existenzweisen oder kulturelle Repräsentationen – bleiben womöglich weiterhin ausgeschlossen? Stößt da, wo Differenz die irreduzible Andersheit des Anderen meint, die Integrationsbereitschaft an ihre Grenzen? Und haben die Positionen, die Allianzangebote zurückweisen oder sich der Konsensbildung verweigern, dennoch Chancen, sich politisch zu artikulieren und gesellschaftlich zu partizipieren? [S. 42/43]

[…] Sowohl aus sozialwissenschaftlicher als auch aus psychoanalytischer Perspektive wird Projektion überwiegend im Sinne einer Abwehr verstanden, die das, was abgelehnt wird, aus dem ›Eigenen‹ ausschließt und ›Anderen‹ zuweist (vgl. Laplanche/Pontalis 1994: 400; Hillmann 2007). Der Begriff kann jedoch auch allgemeiner als psycho-soziale Operation des Nach-außen-Verschiebens und dort Lokalisierens gefasst werden, als ein »Wiederhinausverlegen von psychischen Innenvorgängen in die verursachende oder an den Vorgängen völlig unbeteiligte Außenwelt« (Hillman 2007: 708). Hierbei bleibt zunächst unbestimmt, ob und inwiefern dies mit Bewertungen und affektiven Besetzungen verbunden ist. Meiner Ansicht nach spricht nichts dagegen, dass das Projizierte auch positiv besetzt und wertgeschätzt sein kann – nicht zuletzt deshalb, weil ein Ideal eben gerade nicht das ist, was vom ›Eigenen‹ sowieso verkörpert wird. Projektion in seinem klassischen Verständnis als Abwehrmechanismus würde zur Gegenfigur der Integration werden (vgl. Lorey 2007a), während sie in meinem Sinne als eine Form der Integration wirksam wird. Damit entpuppt sich Projektion, und darin ähnelt sie Isabell Loreys Modell der Integration als Immunisierung (vgl. ebd.), als eine spätmoderne Form normalisierender Herrschaft.

Wenn ich den paradoxalen Begriff der projektiven Integration einführe, der besagt, dass das, was nach außen verlagert zugleich integriert wird, möchte ich damit mehreres nahelegen: zum einen, dass integrieren tatsächlich heißt, etwas nach innen zu nehmen, was zunächst im Außen lokalisiert ist; zum zweiten, dass das Projizierte – selbst als Abgewehrtes – begehrt wird; und zum dritten, dass im Verlauf dieses paradoxen Prozesses die Unterscheidbarkeit von Innen und Außen verwischt. Versteht tran Begehren als einen psychischen Prozess, in dem sich eine Verbindung zwischen Selbst und Andere_ herausbildet, so wäre projektive Integration ein Prozess, der eine Verbindung zwischen Identifizierung und Begehren knüpft – also die Ausbildung von Selbstverständnissen als Ausbildung einer Relation zwischen Selbst und Andere_ fasst. Im engeren Sinne der lacanschen Psychoanalyse sind Identifizierung und Begehren unhintergehbare Momente der Subjektkonstituierung, die darauf verweisen, dass sich das Subjekt nur bildet, indem es sich im Anderen erkennt/verkennt (vgl. Lacan 1991a). Hierbei wird der Prozess der Subjektkonstituierung als Spiegelung konzipiert, also als eine Projektion, die das Bild für die Identifizierung liefert und das Begehren weckt, die so imaginierte Ganzheit könne durch die Beziehung mit de_ Anderen hergestellt werden. Sigrid Adorf (2007) hebt hervor, dass dies ein über Bilder vermittelter, also medialer Prozess ist und sieht einen Gewinn darin, genau diese mediale Vermitteltheit der Subjektkonstituierung anzuerkennen. Am Beispiel der Rezeption einer Videoarbeit erklärt sie, die Projektion ermögliche, »dass das Subjekt seines Spiegeldaseins gewahr werden kann. Es erfährt darin die Bedingtheit, das heißt die mediale Vermitteltheit, seines imaginären Selbst(bildes)« (ebd.: 16). Das Medium Video stellt für Adorf hinsichtlich des Projektionsprozesses eine Besonderheit dar. Denn es erlaubt, eine Rückkopplungsschlaufe zu produzieren: Das Videobild kann im gleichen Moment, in dem es aufgenommen wird, an die Aufgenommene und die Aufnehmende rückgespiegelt werden. Das zu diesem Zwecke über einen Monitor projizierte Bild steht als Andere_ der Identifizierung und dem Begehren, der Disidentifizierung und der Abwehr zur Verfügung, während es zugleich als Spiegelbild des Selbst erfahren wird. Zudem stellt es auch zwischen Aufnehmende_ und Aufgenommene_ eine Relation her, die medial vermittelt ist. Selbstverständnisse und soziale Beziehungen sind demnach bildhaft und so gestaltet, dass Bilder von Selbst und Andere_ nicht klar voneinander geschieden sind. Für Adorf lässt sich am Beispiel der Videoprojektion das psychoanalytische Verständnis der Subjektkonstituierung verdeutlichen, eines Subjekts, das immer schon ein_ Andere_ ist.

Entscheidend erscheint mir an dieser medientheoretischen Überlegung, dass die Prozesse der Projektion und der projektiven Integration als zugleich mediale, imaginäre und psychische Prozesse gefasst werden. Zu bedenken gilt es nun, dass diese sich unweigerlich auch in einem sozialen und gesellschaftlichen Kontext abspielen, der die Bedingungen der Bildproduktion, -rezeption und -lektüre bestimmt – sei es im Sinne des Archivs der verfügbaren Bilder und Medien, der sozio-ökonomischen Ressourcen, Prozesse und Institutionen der Produktion und Zirkulation oder der Diskurse und Macht/Wissenskomplexe, die das Verstehen anleiten. [S.49-51]

Kapitel 2: Verführung in die privatisierte Verantwortung

Ein Plakat in einer WG-Küche zeigt die Photographie einer Person weißer Hautfarbe, die mit nacktem Oberkörper an einem Küchenherd steht und wie abwesend in einem Kochtopf rührt. (Doujak und Marth, 1999, aus der Serie Lick before you Look). Der Blick ist in die Ferne gerichtet und entschwindet aus dem Bild, der Gesichtsausdruck ist ernst, die Handhaltung befremdlich, so dass das Rühren wie ein Kraftakt und der Kochlöffel wie eine Stichwaffe erscheinen. Im Hintergrund steht ein mit einem Laken verhangenes Regal, ein Besenstiel lugt hervor; in Kombination mit dem altmodischen Gasherd wirkt das Szenario ein wenig schäbig. Das strenge Gesicht mit Oberlippenbart, aber halblangen Haaren irritiert d_ Betrachter_in durch geschlechtliche Ambiguität. Obgleich der in Seitenansicht präsentierte nackte Oberkörper mit deutlich ausgeprägter Brust nahelegt, die Figur als weiblich zu decodieren, bleibt doch der Eindruck, dass hier zumindest keine traditionelle Form von Weiblichkeit gemeint ist. Das Bild widerspricht üblichen Repräsentationen von Sexiness, von Mütterlichkeit, aber auch von der Karrierefrau ebenso wie der hippen Lesbe.

Ein zweites Bild, entdeckt beim Blättern in einem kostenlosen lgbt-Magazin, zeigt eine Person weißer Hautfarbe, ebenfalls in Seitenansicht, die wie abwesend in einem Kochtopf rührt; der Blick gesenkt, die Lider halb geschlossen und die rührende Hand auch in diesem Falle befremdlich: als führte sie sorgsam einen Pinsel. Der Hintergrund ist verschwommen, in hellen Pastellfarben gehalten, und d_ Betrachter_in assoziiert, obgleich der Topf auf glänzendem Ceranfeld eine Küche nahelegt, eher ein Krankenhauszimmer: klinische Reinheit, weiße Laken auf einem Bett. Da die Figur mit einem T-Shirt bekleidet ist, dient statt des nackten Oberkörpers der Kinnbart als sekundäres Geschlechtsmerkmal und legt d_ Betrachter_in nahe, auf einen jungen Mann zu schließen. Es entsteht zwar nicht der Eindruck einer geschlechtlichen Ambiguität, doch unterläuft auch diese Repräsentation vertraute Muster der Maskulinität: weder Stärke noch Aktivität, kein Abenteurer, kein Karrierist und auch kein sexy Schwuler.

Auf den ersten Blick weisen die Bilder erstaunliche Ähnlichkeiten auf, nicht nur was die Szene und den Bildaufbau betrifft, sondern auch bezüglich der selbstvergessenen Haltung, mit der die Menschen am Kochtopf stehen, sowie der Unterbrechung der Geschlechterstereotype. Bei näherer Betrachtung treten jedoch Unterschiede hervor, die, wie ich zeigen möchte, damit zu tun haben, wie diese Bilder in einen neoliberalen Diskurs eingebunden sind, der die Vereinbarkeit von Individualisierung und sorgender Verantwortung propagiert und der hier über die Repräsentation von Haus- und Sorgearbeit verhandelt wird. [S. 69+72] 

[…] Während im Falle der männlichen Figur die soziale Eingebundenheit überrascht, ist es im Falle der weiblichen Figur gerade deren Ausbleiben. Das Bild verweist auf keinerlei Nutznießer_innen ihrer edlen Gabe: Weder die Familie noch das romantische dinner-for-two oder der ausgewachsene Freundeskreis kündigt sich an. Auf provokative Weise präsentiert uns das Bild von Doujak/Marth eine Verkörperung der Unabhängigkeit inmitten der Sphäre der Reproduktion. Das Moment der Autonomie, das sich im Falle des anderen Bildes als ›Autonomie dank der Pharmaindustrie‹ und ›Autonomie in der Bindung‹ darstellt, wird hier auf die Spitze getrieben: Nichts deutet an, dass d_ Protagonist_in in einer – sei es öffentlichen oder privaten – Beziehung steht. Angesichts dieser Verkörperung von Autonomie erfüllt d_ Protagonist_in somit alle Kriterien des homo oeconomicus: »Er ist weder von andern abhängig, noch für andere verantwortlich. Er ist nicht auf Beziehungen zu andern angewiesen, um das zu sein, was er ist. Er hat unabhängig von andern, eindeutige Vorstellungen darüber, was er will und wie er es bekommen kann, und entscheidet unentwegt aus rein instrumentellem Gesichtspunkt. Er ist voll erwerbs- und handlungsfähig, er ist nicht krank, er stirbt nicht und vor allem ist er schon erwachsen und er ist […] weder alt noch kann er schwanger werden.« (Madörin 1999: 140f.) Entsprechend ist im Umfeld d_ Protagonist_in weit und breit niemand zu sehen, die_den sie versorgen oder die_der sie umsorgen könnte. Der zielstrebige Blick in die Ferne sowie die instrumentelle Nutzung des Kochlöffels sprechen dafür, dass sie_er »weiß, was sie_er will und wie sie_er es bekommen kann« (ebd.). Obwohl dem Bild direkte Hinweise auf eine ökonomische Ordnung fehlen, werden wir als Betrachter_innen dennoch auf diese verwiesen. Indem inmitten der häuslichen Abgeschiedenheit deren Überschreitung inszeniert wird, eine scheinbar bindungslose, aber auf äußere Ziele konzentrierte Person dargestellt wird, erfolgt eine Transformation im Verständnis sowohl von Hausarbeit als auch von weiblicher Subjektivität. Während also im Kontext des Werbebildes die traditionell weibliche Konnotation der Hausarbeit dazu führt, dass die männlich decodierte Figur von den Geschlechterstereotypen eingeholt und in einen homophoben Diskurs hineingezogen wird, kann die Figur in Doujaks/Marths Plakat von einem feministischen Diskurs profitieren, der Reproduktion als Arbeit zu markieren weiß. [75/76]

[…] Die unterschiedlichen Erzählungen beider Bilder hängen maßgeblich von den dargestellten Händen ab, die damit im Sinne von Gatens als ›imaginäre Körper‹ fungieren. Auf welche kulturellen Imaginationen verweisen sie? Fügen sie unerwartete Vorstellungen ins kulturelle Bildarchiv ein? Auch diesbezüglich bietet Derrida einige Inspirationen, die mir vor allem deshalb interessant erscheinen, weil sie einen Zusammenhang zwischen Sexualität und Ökonomie herstellen, der nicht der kapitalistischen Produktions-, sondern einer Sorge-Logik folgt. In seinem Aufsatz »Heideggers Hand. Geschlecht II« (Derrida 1988: 45-117) zeigt Derrida, dass Heidegger die Hand als eine sprechende Hand und einen Modus des Denkens ansieht und zugleich Denken als Handwerk versteht (vgl. ebd.: 57f.). In diesem Zusammenhang seien die Hände »nicht jene Greiforgane oder jene als Werkzeuge benutzbaren Glieder« (80), sondern eine Gabe (vgl. 57). Derrida schlägt vor, an diesen Gedanken der Hand als Gabe, der Hand, die gebe und sich selber gebe, anzuknüpfen. Mehreres gelte es diesbezüglich allerdings zu bedenken: Zum einen gelänge die Idealisierung der Hand nur durch eine doppelte Abgrenzung, nämlich vom Animalischen (der Affe, für den die Hand lediglich Greifwerkzeug sei) und von der industriellen Produktion (die der Hand die Sinnlichkeit des Handwerkens nehme). Diese doppelte Überlegenheitsphantasie sei anzufechten, sollen nicht anthropozentristische, körper-normative, rassistische und Klassen-Hierarchien reproduziert werden. Entsprechend wäre zu fragen, inwiefern das Bildmaterial derartige Anfechtungen inspiriert. Zum anderen ist Derrida frappiert, dass die viel versprechende Vorstellung der Hand als Gabe mit deren Desexualisierung einhergeht. Warum, so fragt er, spreche Heidegger niemals über die zärtliche Hand oder die Rolle der Hand in der Liebe und im Begehren. […]

Und warum, so wäre aus queer/feministischer Perspektive zu ergänzen, nicht die Hand als erotische Zone, als Sexualorgan erwähnen, sowie die Hand, die Haus- und Sorgearbeit verrichtet, aber auch die Hände, die jemanden halten, festhalten, kontrollieren oder strangulieren? Die gewaltsame Hand als konstitutiver Aspekt der Geschlechterhierarchie, der Heteronormativität und rigider Zweigeschlechtlichkeit wird auch von Derrida nicht bedacht. [S. 86-88]

Kapitel 3: Die Widersprüche der Paradoxien

Paradoxien kommt ein prominenter Status in neoliberalen Diskursen zu. Mit diesem Buch zeige ich, dass das Auftreten der Paradoxien unmittelbar damit verbunden ist, wie Sexualität und Geschlecht diskursiv zum Einsatz gebracht werden. Im vorigen Kapitel stand diesbezüglich die widersprüchliche Anforderung im Mittelpunkt, sorgende Verantwortung an den Tag zu legen, aber zugleich individuelle Unabhängigkeit zu demonstrieren. Charakteristisch erscheint mir außerdem das verbreitete Insistieren darauf, Sexualität als Privatangelegenheit zu verstehen, sie aber in den Medien permanent zur Schau zu stellen und der öffentlichen Verhandlung auszusetzen. Zudem rufen insbesondere neoliberale Subjektivitätsvorstellungen dazu auf, Widersprüchliches miteinander zu vereinbaren, so z.B. gleichzeitig Leistungs- und Freizeitsubjekt zu sein, Besonderheit und Normalität zu vermitteln oder den eigenen Körper allen möglichen Technologien zu unterwerfen, ihn aber zugleich als Inbegriff des Natürlichen anzusehen. Ein geschickter und flexibler Umgang mit derartigen Paradoxien scheint nötig, um innerhalb neoliberaler Verhältnisse zu bestehen. Wenn es darum geht, entsprechende Bewältigungsstrategien zu entwickeln, zeigt sich, dass queere und neoliberale Diskurse nicht sorgfältig voneinander geschieden sind, sondern sich in Prozessen hegemonialer Allianzbildungen miteinander verflechten. Bilder vieldeutiger, widersprüchlicher oder hybrider Geschlechter- und Begehrensrelationen, wie sie aus queerer Perspektive entworfen werden, sind einerseits geeignet, heteronormative Vorstellungen des Sexuellen herauszufordern, können jedoch andererseits eine Virtuosität im Umgang mit neoliberalen Anforderungen unterstützen. Denn im Kontext neoliberaler Transformationen gesellschaftlicher Verhältnisse dienen Repräsentationen nonkonformer Geschlechter und Sexualitäten dazu, paradoxe Spannungen bewältigbar erscheinen zu lassen, Gegensätze miteinander zu vermitteln, oder Paradoxien lustvoll zu besetzen – und Selbstrepräsentationen der Polymorphen sind nicht jenseits dessen zu verstehen. Nichtsdestotrotz ist queere Theorie und Politik maßgeblich an der Kritik neoliberaler Transformationen beteiligt. Hierbei nutzt sie Paradoxien, um eindeutige oder universalisierende Konstrukte in Frage zu stellen, und bringt sie damit in herrschaftskritischer Weise zum Einsatz (vgl. Mönkedieck 2008). In diesem Sinne lässt sich im Hinblick auf den Umgang mit Paradoxien ein wiederum paradoxes Spannungsverhältnis von gleichzeitiger Affinität und Abwehr zwischen queeren und neoliberalen Diskursen diagnostizieren. [99]

[…] Die Zeichnung der Berliner Künstlerin Galli (Ohne Titel, 1989, Graphit, Pastellkreide, 29,7 x 21 cm), die ich im Folgenden diskutieren werde, wurde 2008 im Rahmen der Ausstellung Galli in der Saarländischen Galerie Berlin unter dem Titel Das Kotzblatt ausgestellt. Da dieser Titel höchst passend für die von mir vorgeschlagene Lektüre erscheint und diese auch angeregt hat, wird er im Folgenden weiterhin verwendet. Wie Doujaks Arbeit lässt sich auch dieses Bild mit dem Thema des Nahrungsüberschusses in Zusammenhang bringen. Zudem präsentiert es seinerseits einen Schwall und eine Schale, nur dass sich in diesem Falle die Schale nicht leert sondern füllt, da in sie hineingekotzt wird. Die in schwarz, weiß und grau gehaltene Zeichnung zeigt eine nach vorne gebeugte Figur, die den Kopf in ihre verschränkten Arme lehnt und unter diesen hindurch in eine Schüssel speit. Einer der kräftigen Arme endet in einer vor dem Bauch platzierten Hand, die eine schwarze Masse umgreift, welche die gleiche Farbe und Textur wie die Kotze aufweist. Sie verlängert sich nach oben in eine überlebensgroße dunkle Wolke, die über der Figur schwebt und die gesamte obere linke Hälfte des Blattes einnimmt. Nach unten hin produziert sie aus der Hand heraus einen Schwall ähnlich dem, was unter den Armen hervorkommt. Unklar bleibt jedoch, ob hiermit der Inhalt der Schüssel, wie bei einem Staubsauger, aufgesogen oder ob die Schüssel aus einer zweiten Quelle gespeist wird. Die Wolke kann gleichermaßen eine Fontäne oder ein durch die Hand wie durch einen Trichter kanalisierter Ausbruch sein. Weniger dramatisch ließe sie sich zudem von der Form her als Blumenstrauß oder Büschel interpretieren, ebenso wie der Schwall unter den Armen auch ein Schwung langer Haare sein könnte. Gegen diese Lesart sprechen allerdings der Titel und die in schwarz, weiß und grau gehaltene Farbgestaltung des Blattes.

Irritierend ist das zweite Bein der Figur. Auf einem steht sie: Stämmig und in der Mittelachse des Bildes angeordnet, verleiht es der Figur wie dem Bild Ruhe und Stabilität. Das andere Bein hingegen ist unproportional verlängert und vergrößert. Im Knie gebeugt ist der Unterschenkel senkrecht nach oben gestreckt, der Fuß ist wiederum von der schwarzen Masse umwickelt, wird entweder in die Wolke hineingezogen oder entreißt dieser etwas ihrer Substanz. Was die Unbestimmtheit der Bewegung betrifft, scheint hier eine prekäre Stabilität der Spannung gegeben, die sich in jedem Moment zu der einen oder anderen Seite auflösen kann. Dieser Eindruck wird durch die ausgeprägten Muskelschattierungen auf dem Bein verstärkt und bewirkt wiederum, dass die gesamte Konstellation eine zirkuläre Dynamik entfaltet. Diese nimmt, so eine mögliche Sichtweise, im Kotzen ihren Ausgang und bewegt sich dann durch Hand und Bein hindurch nach oben. Es kommt jedoch zu keiner Entspannung oder Entladung. Vielmehr schwebt die Wolke so dräuend über dem Körper, dass sie den Kotzimpuls nur erneut zu speisen scheint und der Zirkel sich schließt. […] zum anderen signalisiert ein keilförmiger Bereich weißen, unbearbeiteten Papiers seitlich rechts über der Figur, dass sich der Zirkel nicht zur Wolke hin schließt. Vielmehr entstünde, würde der Überschuss tatsächlich ›aus allen Kanälen‹ ausgekotzt, eine Unterbrechung der Zirkularität. In diesem Sinne würde auch die zweite Variante des Zirkels bedeuten, dass eine Entspannung unmöglich ist.

Zugleich deutet jedoch die Unterbrechung der Zirkularität ein Potential von Veränderung an. Inwiefern ist dies als ein politisches Potential zu verstehen? Und was hat dies damit zu tun, wie das Bild Paradoxien zum Einsatz bringt? Dadurch dass nur eine einzige Figur auf dem Blatt zu sehen ist, können Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht in personalisierten Relationen gesucht, sondern müssen entweder als symbolische Abstraktionen sozialer Kräfte ausfindig gemacht oder aus Effekten geschlossen werden. Macht- und Herrschaftseffekte könnten sich zum einen physiologisch ausdrücken, in den Spannungen und Bewegungen, die der Körper aufweist, zum anderen in den physischen Bedingungen, die den Köper umgeben, in diesem Falle reduziert auf Wolke, Schale und Boden, oder aber in dem Verhältnis zwischen physischen Bedingungen und physiologischen Reaktionen des Körpers. [S. 113/14]

Sehr wohl aber ist das Bild durch eine ausgeprägte Dynamik gekennzeichnet. Diese resultiert aus der Wolke, die gleichzeitig dräuend drückt und sich explosiv entlädt. Dieser paradoxe Zustand, so er persönliche oder globale Ernährungsverhältnisse charakterisiert, scheint mir eine politische Interpretation nahezulegen: Zwar sieht es auf den ersten Blick so aus, als wenn Oppositionen wie schwarz/weiß, innen/außen, unten/oben, vorher/nachher das Bild organisieren, doch stellt sich auf den zweiten Blick heraus, dass sie in der zirkulären Dynamik an Relevanz verlieren. Denn sie fungieren weniger als Grenzregime denn als permanente Übergangsstadien. Damit ist eine ästhetisch-semiotische Strategie der Intervention in binäre Hierarchien angedeutet, die diese weder negiert noch transzendiert, jedoch ihre Wirksamkeit als Hierarchiebildner unterläuft. Interessant ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass die Figur geschlechtlich unmarkiert bleibt, dass also nicht versucht wird, die starke binäre Opposition männlich/weiblich ebenfalls in eine Metapher der Übergänge zu übersetzen. Außerdem entzieht sich eine weitere starke Opposition der Umarbeitung: Die Farbcodierung des Bildes verdeutlicht, wie resistent die binäre Schwarz/Weiß-Opposition ist. Wird das Bild im Kontext globaler Nahrungsversorgung gelesen, fragt sich, wie das Bild wirken würde, wenn Grau nicht zur Markierung der physiologischen Muskelspannung eingesetzt worden wäre, sondern zur Arbeit an der Schwarz/Weiß-Opposition. Denn in der jetzigen Form bleibt eine Farbcodierung bestehen, die für den genannten politischen Zusammenhang befremdlich – oder vielmehr: allzu vertraut – wirkt: Überschuss und Bedrohung kommen in schwarz daher, während das Potential der Unterbrechung weiß markiert ist. Insofern auch die Figur selbst weißer Hautfarbe ist, bleibt eine kulturell eingespielte rassistische Farbhierarchie unangefochten. [S. 115]

Kapitel 4: Paar werden - Strange werden

Händchenhalten in Nahaufnahme, gerahmt durch zwei Hüften, von denen die eine wie ein stabiler Fels wirkt, im Hintergrund ein strahlender Sonnenaufgang – ein perfektes Klischee von Partner_innenschaft, Vertrauen und Glück. Eine kleine Besonderheit hat die Photographie jedoch zu bieten: ein Lederarmband mit Nieten an einem der Arme und zentral im Bild platziert. Dieses Armband könnte als ein Hinweis auf eine schwule Lederszene gelesen werden, wobei dieser Hinweis allerdings sehr dezent erfolgt, weder sexy noch provokativ. Die Botschaft lautet Bindung, nicht bondage. Ein weiteres Bild zeigt zwei ältere Frauen, die einander umarmt halten wie im Tanz. Die Szene findet in einem trostlosen Park an einem grauen Wintertag statt. Es scheint, als müsse das Paar seine Intimität den höchst unwirtlichen Umständen abringen: Regen, Trübnis und ein massiver Stahlträger, der quer über den Köpfen der Frauen dräut. Nichtsdestotrotz vermittelt ihr Anblick den Eindruck von Bezogenheit, Gemeinsamkeit und geteilter Praxis. Doch wiederholt das Bild eine kulturell vertraute Desexualisierung alter Frauen, so dass es offen bleibt, ob es sich bei dem Paar um Schwestern, Freundinnen oder Liebhaberinnen handelt. Beide Photos sind Bilder von Partner_innenschaft und dem Selbst nicht als autonomer Einheit, sondern in Beziehung. Wenn sie als Repräsentationen von Schwulen und Lesben gelesen werden, dann fällt auf, dass sie diese nicht als Verkörperungen der hippen, leistungs- und life-style-orientierten Klasse der kreativen Kulturproduzent_innen darstellen, sondern eher ihre soziale Verbundenheit hervorheben. Auffällig ist außerdem, dass sie keine strikten Unterscheidungen von Homo- oder Heterosexuellen vornehmen, sondern mit Ambiguität spielen. In diesem Sinne arbeiten diese Bilder, wie auch die Anzeigen ›Why are these people so happy and gay?‹ (Kap. 2), mit einer doppelten Adressierung, die Heterosexuelle ebenso wie Lesben, Schwule und Bisexuelle einlädt, in das Phantasieszenario des Bildes einzutreten.

Ich sehe in dem Spiel mit Ambiguität, das die mehrfache Adressierung ermöglicht, erneut die projektive Integration am Werke. Wie bereits ausgeführt, verstehe ich unter projektiver Integration eine spätmoderne Form der Gouvernementalität, die darauf beruht, dass die Einzelnen sich aktiv und mittels virtuosen Managements ihrer jeweiligen Besonderheit in die Gesellschaft einarbeiten und qua Subjektivierung an den Herrschaftsrelationen teilhaben. In diesem Zusammenhang beruht die Regulierung von Sexualität eher auf flexibler Normalisierung denn auf Kontrolle oder Verwaltung vorgeblich stabiler, identitärer Unterschiede. Differenz wird zunehmend als kulturelles Kapital geschätzt, [S. 137/38]

[…] Im Kontext der Queer Theory wird Sexualität als konstitutives Moment von Kulturellem, Gesellschaftlichem und Politischem angesehen. Kritisch-analytisch wird damit umgegangen, dass normative Heterosexualität und rigide Zweigeschlechtlichkeit nicht nur Subjektivität und intime Beziehungen, sondern auch gesellschaftliche Institutionen und Prozesse, inklusive der Wirtschaft, der Wissenschaft, des Rechts und der symbolisch-kulturellen Ordnung, strukturieren (vgl. Engel 2002). Wenn in diesem Sinne eine ›public sex culture‹ (Warner 1999), ›sexual citizenship‹ (Evans 1993; Richardson 2000) oder das Recht auf ein öffentliches ›sexuate being‹ (Cornell 1998) gefordert wird, so bedeutet dies nicht einfach Sichtbarkeit für diverse sexuelle Subjektivitäten und Existenzweisen im öffentlichen Raum, sondern wird Anspruch darauf erhoben, in die Prozesse der sexuellen Strukturierung des Gesellschaftlichen verändernd einzugreifen (vgl. Hark/Genschel 2003; Reddy 2005). Diesbezüglich sollen, so ein queer-politischer Anspruch, nicht erneut Identitätskategorien und normative Ideale des Gesellschaftlichen fixiert werden, sondern Zugangswege für politische Aushandlungen eröffnet werden, ohne sie im Vorfeld (qua Staatsbürger_innenschaft, qua Alter, qua Diskursmächtigkeit, qua Subjektstatus etc.) zu definieren.

In Anknüpfung an Bhabhas Figur der unhomeliness erscheint mir Shane Phelans Konzept einer queer citizenship interessant (vgl. Phelan 2001). Queer citizenship ist eine Vision von Bürger_innenschaft, die nicht auf sozio-kulturelle Integration in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse ausgerichtet ist, sondern für eine Politik der strangeness eintritt. Sie antizipiert dementsprechend ein Gesellschaftliches, dem die unhomeliness nicht in einer Weise unheimlich ist, dass sie abgewehrt oder verworfen werden müsste. Vielmehr besteht das politische Anliegen der queer citizenship darin, Räume für Formen irreduzibler, fortwährend befremdlicher Differenz zu schaffen, die sich nicht durch Klassifizierung stillstellen oder durch die Bestimmung von Graden der Ähnlichkeit oder Abweichung zähmen lassen.  [S. 152/53]

Kapitel 5: Spektakel im Rahmen

[…] Zanele Muholis Photographie Isibuko I schreibt sich in eine Reihe künstlerischer Arbeiten ein, die den Spiegel als ein Produktionsmittel nutzen, um ein Selbstporträt zu erstellen. Insofern auch die Kamera im Bild präsent ist sowie ein Körper, der Arbeit leistet, möchte ich diese Photographie zum Anlass nehmen, um die Dimension der Bildproduktion in die Diskussion um queere kulturelle Politiken aufzunehmen. Im dritten Kapitel habe ich durch die Andeutung unterschiedlicher Lektüre- und Interpretationsmöglichkeiten verdeutlicht, dass sich zwischen medialem Bild und Bildlektüre eine wechselseitige Beeinflussung abspielt, die es unmöglich macht, den Prozess des Bedeutens von der einen oder anderen Seite determiniert zu sehen. Die Bedeutungsproduktion spielt sich im Zwischenraum ab, der weder Lektüre noch Bildobjekt, sondern die Produktivität ihres Zusammenspiels ist. Ein ähnlicher Zwischenraum lässt sich auch zwischen Herstellungsprozess und Bildobjekt verzeichnen: ein Zwischenraum, der seinerseits durch Praxen der Lektüre gestaltet wird. Im Kontext dieses Kapitels möchte ich herausfinden, ob bzw. inwiefern dieser Produktionsprozess so verstanden werden kann, dass das Bild nicht einfach Produkt der Herstellung ist, sondern in diesem Prozess eine Unkontrollierbarkeit an den Tag legt und Rückkopplungseffekte auf die Produktion zeitigt. Wenn dem so ist, würden Bilder nicht nur vermittelt über den Rezeptionsprozess veränderte Auffassungen oder Praxen bewirken, sondern die soziale Produktivität des Bildes würde auch Rückwirkungen auf die Kontexte und Bedingungen seiner Herstellung haben.

Doch zugleich gilt es zu fragen, was die Bedingungen des Produktionsprozesses ausmacht und wann dieser so gestaltet ist, dass die agency-Funktion des Bildes unterstützt wird. Zugespitzt bedeutet dies, auch auszuloten, wie Bilder im Kontext von Gewaltverhältnissen funktionieren können, sei es, dass die Produzent_in in ihren Arbeitsbedingungen mit symbolischer, materieller oder struktureller Gewalt umzugehen hat, oder, dass das Bild, insofern es Teil kultureller Politiken ist, sich als Intervention in Gewaltverhältnisse zu beweisen hat (Hentschel 2007; Holert 2008). Auch im ökonomischen Sinne sind Bilder Teil von Produktionsverhältnissen: Ihre Herstellung findet an bestimmten geo-historischen Orten und in sozio-kulturellen Kontexten statt, sie wird von jemandem geplant und durchgeführt, Ressourcen fließen in sie ebenso ein wie Wissen, Phantasien, Wünsche und Intentionen; Fragen der Finanzierung berühren nicht nur das Objekt und seine spätere Zirkulation, sondern auch die Produzent_in und ihre Arbeitskraft (vgl. Hall 1997: 1; Leeuwen/Jewitt 2001: 6ff.). Wenn in diesem Kapitel die Produzent_in Zanele Muholi bezüglich ihres Bildes und ihrer Arbeitsweisen zu Wort kommt, so nicht, weil ich denke, dass dies die Bedeutung des Bildes erschließen würde oder das Bild ohne diese Kontextualisierung nicht verstehbar wäre, sondern weil dies die Möglichkeit eröffnet, die Produktionsweisen und -verhältnisse zu reflektieren, die die Prozesse der Bedeutungsproduktion beeinflussen, welche sich in der Zusammenarbeit von Bild und Betrachter_in entfalten. [S. 167/68]

[…] Auch kunst- und medientheoretischen Überlegungen zufolge verdient der Rahmen besondere Aufmerksamkeit, insofern er zugleich Grenzziehung wie auch Verbindung zum sozio-kulturellen Kontext des Bildes ist. Der Rahmen bestimmt den Ausschnitt dessen, was zu sehen ist, und stellt dabei immer auch einen Verweis auf das Außerhalb her, wovon auch seine historische Interpretation als ›Fenster zur Welt‹ zeugt (vgl. Lebensztejn 1994). Materielle Ausformung und metaphorische Bedeutung des Rahmens prägen komplexe Wechselwirkungen aus; sie können sich gegenseitig stützen und verstärken, aber auch anfechten oder unterlaufen. In diesem Sinne ist der Rahmen, wie Kerstin Brandes (2008) mit Bezug auf Jacques Derridas Überlegungen zum Parergon verdeutlicht, eine ausnehmend ambivalente Größe, die, indem sie ›das Wesentliche‹ aufzuzeigen vorgibt, zugleich dessen Unvollständigkeit hervorhebt (vgl. ebd.: 122f.). Für Brandes wird diese Ambivalenz zum Einstiegspunkt für die Analyse künstlerischer Strategien, die konventionelle diskursive und institutionelle Rahmungen verschieben. Doch gilt es auch zu bedenken, dass der Rahmen, wie Sigrid Schade und Silke Wenk (1995) betonen, für machtvolle Formen der Grenzziehung und Autorisierung steht und dass es demnach wichtig ist, die unterschiedlichen diskursiven und institutionellen Rahmungen (z.B. der Kunst, der Pornographie, der Kriminologie) zu beachten, die jeweils »in spezifischer Weise zu sehen geben« (ebd.: 391). Diese normative Bedeutung des Rahmens wird von Judith Butler (2007) in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu Mediendarstellungen von Folter und sexualisierter Gewalt gestellt. Sie weist darauf hin, dass Rahmungen ein »Feld wahrnehmbarer Realität« (ebd.: 205) abstecken, das nicht zuletzt bestimmt, was als ›menschlich‹ bezeichnet und betrachtet werden kann. Aus dieser Sicht sind Rahmen nicht nur mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen komplizenhaft verbunden, sondern können zu »gewaltsamen Rahmen« (207) werden. Butler beklagt, dass nur selten der Rahmen selbst der kritischen Reflexion unterzogen werde, bzw. stellt die These auf, dass nur dann, wenn eine Deutung des Rahmens erfolge, auch eine kritische Überprüfung der Begrenzungen der Realitätsdeutung möglich werde (vgl. ebd.).
[S. 171/72]

[…] Die Erweiterung und Veränderung des kulturellen Bildarchivs durch die Produktion ›neuer‹ Bilder ist nicht als individuelle Leistung eines kreativen Künstler_innensubjekts zu verstehen, sondern ist, wie Muholi selbst dies bezeichnet, Teil eines ›visuellen Aktivismus‹, der in kollektive und subkulturelle Kontexte eingebunden ist. Sie stellt ihre künstlerischen Arbeiten und Praxen damit nicht nur in Relation zu den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in Südafrika, die ihr Arbeiten rahmen, sondern produziert auch transnationale Bezüge zu Formen queeren Aktivismus, die auf visuelle Politiken setzen: »[…] [V]isual collectives insist that the transformation of the public visual landscape is itself a form of activism, that seeing and being seen are political acts. Distribution is as crucial as content.« (Cvetkovich 2001: 295) Muholi versteht visuellen Aktivismus sowohl als Intervention in den heteronormativen Mainstream als auch als Form der Community-Bildung. Teil ihrer Arbeit besteht darin, PhotoVoice-Workshops anzubieten, um Schwarze Lesben der Townships in das Medium der Photographie einzuführen und ihnen Fähigkeiten zu vermitteln, mit denen sie Lebensbedingungen dokumentieren, ihre Erfahrungen und Sichtweisen artikulieren und Forderungen formulieren können. Diese Form pädagogischer Praxis kann mit Antonio Gramsci als Teil hegemonialer Kämpfe verstanden werden, insofern ›Erziehung‹ für Gramsci nicht nur der Herrschaftssicherung dient, sondern auch gegen-hegemoniale Bewegungen mobilisieren kann.  
[S. 182/83]

Kapitel 6: 'Dazwischen' geraten und produktiv geworden

Methodologische Reflexionen

Im Kontext kritischer Kulturwissenschaften wird, wie in der Einleitung dargelegt, Repräsentation als Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion sowie als Modus der Subjektkonstituierung gekennzeichnet. Diese Prozesse werden als Machtprozesse analysiert, die durch historisch sich wandelnde, geo-politische und symbolisch-diskursive Herrschaftsverhältnisse beeinflusst sind und auf diese einwirken. Materielle Objekte der Repräsentation, die im Rahmen dieses Buches als ›Bilder‹ vertreten sind, sind hierbei eingespannt in ein Dreieck der Kulturproduktion, der Darstellungsfaktoren und der Rezeption bzw. Lektüre. Ihre Bedeutung entsteht immer aus dem Zusammenspiel dieser Dimensionen und verändert sich in dem Maße, wie Produktion, Darstellung und Rezeption in sich keine statischen, klar voneinander geschiedenen Gegebenheiten sind, sondern ein Feld dynamischer und machtgesättigter Beziehungen ausbilden. Es entfalten sich also ›Zwischenräume‹, und zwar sowohl zwischen der Darstellung (dem medialen Objekt der Repräsentation und seiner formalen Verfasstheit) und der Rezeption (einer von sozio-kulturellen Konventionen gespeisten subjektiven Lektürepraxis) als auch zwischen dem Darstellungsobjekt und der Produktion (die unter spezifischen Bedingungen und mit bestimmbaren Mitteln und Ressourcen erfolgt). Diese Zwischenräume, die im Rahmen der vorhergehenden Bildlektüren als Schauplätze der Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion genutzt worden sind, sollen im Folgenden methodologische Aufmerksamkeit erfahren. Denn dieses nicht fixierbare ›Dazwischen‹ (in between), das die hier präsentierten Bildlektüren erfahrbar machen, stellt die Voraussetzung dessen dar, was ich kulturelle Politiken nenne. Dank des Dazwischen lassen sich Bedeutungsproduktion, Wirklichkeitskonstruktion und Subjektkonstituierung als unabschließbare Prozesse verstehen, in denen Normen und Konventionen bestätigt oder brüchig werden, sich Rahmen-Wechsel vollziehen, Diskurse sich mit Darstellungspraxen verschalten oder Phantasie und Begehren dem morphologischen und/oder kulturellen Imaginären überraschende Wendungen bereiten. [S. 199/200]

 […] Von der ›Verführung in die privatisierte Verantwortung‹ bis zum ›Paar werden – Strange werden‹ habe ich den sozialen Mechanismus der projektiven Integration anhand von Bildern und mittels Bildlektüren untersucht. In diesem Rahmen funktionieren zum einen Bilder als soziale Praxen und Instrumente der Gouvernementalität, die die projektive Integration als ein Versprechen oder Angebot an potentielle Betrachter_innen herantragen. Zum anderen beruht die projektive Integration darauf, dass Rezipient_innen mentale, psychisch-imaginäre und kulturelle Bilder produzieren und diese in soziale Praxen einspeisen. Die projektive Integration macht sich die Mehrdeutigkeit des Bildbegriffes zunutze, der zugleich mediale Bilder und Vorstellungen (mentale Bilder, Phantasien) sowie sprachliche Bilder (Metaphern etc.) bezeichnet, so dass vielfältige Übersetzungsprozesse notwendig sind, die jeweils Veränderungspotentiale bergen. Im Verlauf der Arbeit habe ich entsprechend Bilder, Vorstellungen, kulturelle Imaginationen und Phantasien begrifflich unterschieden, wobei mir explizit daran gelegen ist, die Vieldeutigkeit des Bildbegriffs nicht stillzustellen (vgl. Mitchell 1987).

Das Material meiner Lektüren sind zweidimensionale, gestaltete Gegenstände, denen bestimmte Formen, Farben und Texturen zu eigen sind, oder genauer, es sind technisch produzierte, zweidimensionale Abbildungen dieser zweidimensionalen Gegenstände, die durch die Art der Reproduktion in ihren Farben, Texturen oder der Größe ihrer Formen verändert worden sind. Doch wenn ich diese Gegenstände ›Bilder‹ nenne, sind diese keinesfalls als isolierte Entitäten gemeint, sondern ist immer der oben genannte Produktionszusammenhang inklusive seiner dynamischen Zwischenräume mit aufgerufen. Die Bedeutung von Bildern entwickelt sich aus einem bestimmten Kontext heraus und nimmt auf diesen Bezug, auch wenn sie ihn überschreitet. Methodologisch geht es mir mit diesem Buch darum, genauer zu bestimmen, wie sich mittels kulturwissenschaftlicher Bildlektüren etwas über gesellschaftspolitische Zusammenhänge aussagen und die soziale Produktivität von Bildern einschätzen lässt. Wenn ich somit die Diversifizierung geschlechtlicher und sexueller Subjektivitäten und Lebensformen in Relation zur Verfügbarkeit von Bildern und medialen Repräsentationen stelle, bedeutet dies nicht, dass diese Repräsentationen Abbild oder gradliniger Ausdruck sozialer Verhältnisse sind. Wohl aber wird ein Zusammenhang zwischen sozio-subjektiven Lebensmöglichkeiten, (Selbst-)Repräsentationen und öffentlicher Artikulation sowie dem kulturellen Archiv verfügbarer Bilder vermutet und ausgelotet. Johanna Schaffer (2008) behandelt diesen Zusammenhang im Hinblick auf die Möglichkeiten ›visueller Anerkennung‹. Hierbei geht es ihr genau darum, wie ›Sichtbarkeitspolitiken‹ so gestaltet werden können, dass sie nicht einfach das kulturelle Archiv durch ›ehrende‹ Bilder erweitern, sondern die Darstellungsregime und die darin eingefassten Codes der Entwertung, Stereotypisierung oder Verwerfung herausfordern. In dem Maße, wie dies gelingt, können die entsprechend veränderten Darstellungsformen eine ›Ehrung‹ der Polymorphen bedeuten, und das heißt deren Anerkennung als Subjekte der sozio-politischen Ordnung.  [201]

[…]Demnach bringen kulturelle Politiken Bilder bzw. visuelle Repräsentationen in hegemonialen Kämpfen zum Einsatz. Meine These ist, dass Bilder deshalb für kulturelle Politiken von besonderem Interesse sind, weil sie, im Sinne Laclaus/Mouffes (1991), gleichzeitig als ›Elemente‹ und als artikulierte ›Momente‹ eines Diskurses auftreten bzw. durch artikulierte, das heißt politisierte Momente und frei flottierende Elemente gebildet werden. Im Modus artikulierter Momente treten sie als Kräfte innerhalb hegemonialer Auseinandersetzungen auf. Mit Laclau/Mouffe wird es jedoch möglich, auch die implizite politische Wirksamkeit von Bildern zu reflektieren, also zu berücksichtigen, dass auch die Elemente, die nicht Teil eines etablierten politischen Diskurses sind, sozio-politische Produktivität entfalten können. Im Hinblick auf queere kulturelle Politiken und soziale Transformationen liegt hierin ein entscheidendes Potential, geht es doch aus queer-theoretischer Perspektive gerade darum, dem, was als kulturell nicht intelligibel gilt, zu seinem Recht zu verhelfen.

In diesem Sinne schließe ich, ähnlich wie Linda Hentschel (2007) an Foucaults Überlegungen zu spätmodernen Regierungstechnologien an und bezeichne die Bilder als ›Instrumente der Gouvernementalität‹. Wenn Hentschel von ›Regierungstechnologien des Visuellen‹ spricht, greift sie einen sehr spezifischen Aspekt aus Foucaults Konzept der Bio-Macht auf. Dieser erklärt, dass Regierung über Risikokonstruktionen erfolgt, die entsprechend Präventationsmaßnahmen und Versprechen der Gefahrenbewältigung hervorbringen. Bilder sind demnach so verfasst oder eingesetzt, dass sie »einem Bewältigungs- und Sicherheitsphantasma dienen können« (195). Wenn Hentschel allerdings davon spricht, dass »Medienbilder als quasi-polizeiliche Techniken« (ebd.: 195) fungieren, wird diese Regierungsweise zwar zugespitzt, eine Aufmerksamkeit für die Prozesse des  ›Dazwischen‹ wird jedoch zugleich erschwert. Der Effekt von Hentschels Zuspitzung ist, dass die Betrachter_innen den Bildern als Regierungstechologien unterworfen sind und scheinbar bereitwillig die ikonographischen Vorgaben eines kollektiven Bildergedächtnisses aktivieren, um ihrem Sicherheitsbedürfnis gerecht zu werden (191). Nur ein ›Antlitz‹, der Eintritt des Anderen, kann das Sicherheitsdispositiv durchkreuzen und eine »prekarisierte Ordnung des Visuellen« (198) bewirken. Im Unterschied dazu erscheint mir wichtig, die Prekarität von vornherein im Verhältnis zwischen Bild und Betrachter_in, Bild und Bildproduktion, Produktionsverhältnissen und Betrachter_in zu verorten. Eine Gouvernementalität der Bilder steht damit weniger im Dienste eines bestimmten Machtdispositivs, als dass sie Machtkämpfe und Verschiebungen von Kräfteverhältnissen forciert, indem Bilder gouvernemental »das Feld eventuellen Handelns anderer zu strukturieren« (Foucault 1987: 255). Stärker als Hentschel greife ich aus Foucaults Gouvernementalitätsverständnis den Aspekt der ›Anreizung‹ und des Zum-Handeln-Anregens auf. […] Damit ist Gouvernementalität notwendig mit Praxen der Freiheit verbunden, und zwar der Freiheit eines durch Machtverhältnisse konstituierten, post-souveränen Subjekts. [S. 220-222]